Der Norden Indiens ist ein Geschenk für alle, die das Land von seiner traditionellsten Seite kennenlernen wollen. Ich habe innerhalb von zwei Wochen alle Eindrücke in mir aufgesaugt und versucht zu verarbeiten. Rajasthan mit seinen vielen Tempeln. Das Holi-Festival. Und der goldene Tempel von Amritsar, ganz im Norden des Landes, wo man schon fast nach Tibet hüpfen kann. Und mittendrin: Kühe auf den Straßen, Staub und Dreck, sowie leuchtende Kinderaugen und eine Herzlichkeit, die nicht in Worte zu fassen ist.
Ja, man kann es erahnen: Ich gehöre zu der Gruppe, die sich absolut in Indien verliebt hat. Dass man dieses Land mit seiner unverständlichen Bürokratie und knallharten Armut ins Herz schließen kann, scheint manchen Touristen unverständlich. Ich sehe das ganz anders und fange mal von vorne an: In Delhi bin ich gelandet und von dort aus mit einem Fahrer zwei Wochen durch den Norden Indiens gefahren. Eigentlich liebe ich es, ein Land auf eigene Faust zu erkunden, doch der Norden Indiens ist so voll von atemberaubenden Sehenswürdigkeiten, dass man dieses Pensum nicht innerhalb von zwei Wochen schafft, sollte man mit dem Zug oder Bus reisen wollen. Zwar ist das Zugnetz sehr gut ausgeprägt und definitiv eine Erfahrung wert, da man aber pro Fahrt mehrere Stunden Verspätung einrechnen muss, sollte das gut überlegt sein.
Von Delhi aus, einer vollkommen chaotischen, lauten und dreckigen Stadt, die sich bestens dazu eignet, von der ersten Sekunde an in das indische Leben hineingeschmissen zu werden, ging es zum Taj Mahal. So oft auf Postkarten gesehen, doch steht man davor, muss man sich daran erinnern weiter zu atmen. Beim Sonnenaufgang erstrahlt der Marmor in einem warmen Glanz und die Szenerie wirkt, als hätte jemand einen wunderschönen Farbschleier darüber gelegt. Es ist und bleibt eines der schönsten Gebäude der Welt – dass in diesem Mausoleum die geliebte und sehr früh verstorbene Frau des damaligen Großmogul Sha Jahan liegt, verleiht dem Bild einen bittersüßen Beigeschmack.
Jaipur, Pushkar, Jodhpur – um nur einige wundervolle Orte in Rajasthan zu nennen, an denen man nicht vorbeikommt. Es reihen sich Tempel an Tempel, ein Fort ist schöner als das andere und jedes Mal beginnt der Zauber von Neuem. In Jodhpur habe ich übrigens das traditionelle Holi-Festival gefeiert, durch welches der Frühling begrüßt wird. Wer also zeitlich flexibel ist, sollte das „Fest der Farben“ definitiv mitnehmen – inklusive Kleidung, die danach gerne bunt sein darf.
Die einizge Sache, mit der ich wirklich zu kämpfen hatte, war der Fahrstil der Inder. Man hört viel über das Chaos auf den Straßen, doch erlebt man es nicht am eigenen Leibe, kann man es nicht nachvollziehen. Es war keine Seltenheit, einen Bus zu überholen, während man selbst überholt wurde, links und rechts eine Kuh sowie ein kleiner Roller unterwegs waren und auf einmal von vorne ein riesiger LKW auftauchte – der ebenfalls überholte. Des Öfteren habe ich die Augen geschlossen und gebetet. Als wir nach neun Stunden Fahrt am nördlichsten Punkt der Reise – in Amritsar – angekommen waren, habe ich erstmal geweint und meinen liebsten Menschen eine lange E-Mail geschrieben. Nichtsdestotrotz geschehen in der Relation zum Fahrstil so gut wie keine Unfälle. Wie der Inder selbst schon sagt: Alles, was du fürs Leben (und somit auch für eine Fahrt auf Indiens Straßen) brauchst ist: „Good horn, good break and good luck“.
Der Inder glaubt. Und der Inder gibt. Nirgendwo sonst habe ich das so stark gespürt, als im goldenen Tempel von Amritsar, die wichtigste Pilgerstätte der Sikh. Hier ist jeder willkommen und im riesigen Speisesaal darf man kostenlos essen. Man sitzt in Reihen auf dem Boden, bekommt Daal, Brot, Wasser und manchmal eine Art Milchreis, bis man satt ist. Egal, ob Tourist oder einer anderen Religion als der des Sikhismus angehörig: Jeder kriegt Essen und keiner muss zahlen. Danach werden die Blechschüsseln in Asche gewälzt und abgewaschen. In den goldenen Tempel von Amritsar pilgern zig Tausende pro Tag. Die Ruhe und Harmonie, die Gesänge in diesem Tempel sind unglaublich friedvoll und strahlen etwas Magisches aus. Wer nicht zum Beten kommt, kommt wenigstens zum Essen. Das Kochen, Servieren und Spülen für Millionen von Menschen im Jahr funktioniert übrigens reibungslos und nur auf der Basis freiwilliger Arbeit sowie Spenden.
Der goldene Tempel/Amritsar; Fotos: Anika Landsteiner
Indien ist ein Land, das die größten Gegensätze in sich vereint. Hier trifft Armut auf Reichtum, komplizierte Bürokratie auf Freundlichkeit und unglaublich leckeres Essen auf nicht vorhandene Hygiene. Es treffen dreckige Kinderhände auf strahlende Augen und gemeingefährliche Affen auf relaxte Kühe, die auf der Straße stehen beziehungsweise auch mal gerne neben einem am Strand liegen. Wer denkt, er hätte alles gesehen, sollte noch nach Indien gehen. Und sich davon verzaubern lassen, dass hier alles und jeder nebeneinander lebt und das Chaos gerade deswegen wunderbar funktioniert.
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